Tote Mädchen lügen nicht - kultur 98 - Juli 2013

Tote Mädchen lügen nicht von Jay Asher im Jungen Theater: Schwierige Wahrheiten

Geblieben ist Hannah Bakers Stimme. Sie hat die Gründe auf 13 Kassetten festgehalten, bevor sie sich für den Suizid entschied. Ihr 16-jähriger ehemaliger Mitschüler Clay ist der erste, der ein Päckchen mit Hannahs Reflexionen über den Ausstieg aus einem Leben erhält, das ihr zu viele Verletzungen zufügte. Mit ihrer Stimme vom alten Walkman im Ohr (Kassettenrecorder gehören heutzutage längst nicht mehr zur üblichen Ausstattung von Jugendlichen) wandert er durch die Stadt.
JTB-Intendant Moritz Seibert hat den Erfolgsroman Tote Mädchen lügen nicht des US-Amerikaners Jay Asher in relativ kurzer Zeit auf die Bühne gebracht und das Ergebnis vorsichtig zur „szenischen Lesung“ deklariert. Es ist indes eine wirkliche Inszenierung geworden, bei der die jugendlichen Darsteller den geschriebenen Text zwar manchmal noch zu Hilfe nehmen, aber ihre Rollen tatsächlich spielen. Nachtstimmung in einer kalifornischen Großstadt suggeriert Seiberts Einheitsbühnenbild. Alle tragen weiß (Kostüme: Brigitte Winter). Leon Dörner, der am JTB schon viel Bühnenerfahrung gesammelt hat, verkörpert den nachdenklichen Clay Jensen, der in Hannah verliebt war, auch wenn es nie zu einer engeren Beziehung kam. Er ist der einzige, dem Hannah keine Schuld gibt. Gilda Masala, ebenfalls seit mehreren Jahren am JTB engagiert, hat die schwierige Rolle der Hannah übernommen, die ja nur noch als Erscheinung in der Vorstellung der anderen auftauchen kann. Die sensible Regie löst die Probleme der komplexen Wahrnehmungsverschiebungen und unterschiedlichen Zeitebenen geschickt, stellt neben die bloß sprachlich dokumentierten Passagen kleine Spielszenen und hält immer bewusst, dass es Hannahs subjektive Sichtweise ist, die diesen Szenen ein tödliches Gewicht gibt.
Es waren keine großen Katastrophen, die Hannah in den Tod trieben. Sie gesteht auch eigene Fehler. Es war keine faktisch ausweglose Situation und kein plötzlicher Schock. Es waren die vielen kleinen, eigentlich ganz ‚normalen‘ Enttäuschungen und Demütigungen. Die Angst vor der erwachenden Sexualität. Die Momente, in denen sie sich nur noch als Objekt wahrnahm. Die Augenblicke, in denen sie Verständnis suchte und nicht erhielt. Die Ereignisse, bei denen sie selbst hätte eingreifen sollen und es versäumte. Erst in der Rückschau erkennt man die Signale, die Hannahs Verzweiflung ankündigten.
Mascha von Kreisler, Mina Grohe, Carlo Hajek und Victor Pasztor (alle um die 16/17 Jahre jung) spielen die verschiedenen Jugendlichen, die, ohne es zu wollen, zu Hannahs Abschied vom Leben beitrugen. Anja von der Lieth und Carlo Himmel aus dem Profi-Ensemble verkörpern die Erwachsenen, verständnisvoll, liberal, untadelig. Die verknöcherte Gesellschaft, an der in Wedekinds Kindertragödie Frühlings Erwachen die Jugendlichen zerbrachen, gibt es längst nicht mehr. Sexualität ist enttabuisiert, was leider gelegentlich auf Kosten der Gefühle geht.
Hannah war ein hübsches, lebenslustiges, geistig und seelisch unauffälliges Mädchen aus der gehobenen Mittelschicht. Nicht unterprivilegiert, keine Schulversagerin. Geblieben ist ihre Stimme, die darauf aufmerksam macht, dass man genauer hinhören sollte bei versteckten Hilferufen. Selbstmordphantasien sind nicht selten bei postpubertären Jugendlichen.
Darauf macht die Aufführung ohne banale Schuldzuweisungen oder pädagogische Effekte aufmerksam. Dass bei der Premiere angesichts der kurzen Probenzeit noch nicht alles perfekt lief – insbesondere bei der sprachlichen Artikulation müsste man noch nacharbeiten – fällt kaum ins Gewicht. Die Chancen, dass die Produktion in die nächste Spielzeit übernommen werden kann, stehen gut. E.E.-K.
Spieldauer ca. 2 Stunden
inkl. einer Pause
empfohlen für Zuschauer ab 14 Jahren
Nächste Termine: 17.07./18.07.2013

Dienstag, 10.12.2013

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