Der Kaufmann von Venedig - kultur 63 - Februar 2010

Shakespeare heute: Der Kaufmann von Venedig im Theater im Ballsaal

Der 1980 in Köln geborene türkischstämmige Sendar Kilic ist Gründer der Rap-Gruppe CrazyKanak und unter dem Künstlernamen „S-Dog“ in der entsprechenden Szene bestens bekannt. Der 16-jährige Schüler Nebil Erdogan hat türkische Eltern und eine richtig gute Gesangsstimme. Der 22-jährige Breakdancer Faruk Hazire ist Kosovo-Albaner mit ägyptischen Vorfahren. Der 18-jährige Miguel Inserra ist Italiener und Mitglied der Medinghovener Rap-Gruppe Radikal Records, die in den Kammerspielen schon im Umfeld des Stückes Zwei Welten auftrat. Die 17-jährige Gymnasiastin Jilou Rasul hat irakische Vorfahren und ein Bildungsniveau, von dem ihre meisten Altersgenossen – welcher Herkunft auch immer – nicht mal träumen.
Die Jungs bestehen auf männlichem Körperkult, teuren Markenklamotten und Goldkettchen, tollen Handys, klaren Glaubensvorstellungen und Ehrbegriffen. Nix Multikulti-Märchen - „Einen Juden spielen wir nicht“ haben sie dem Regisseur Severin von Hoensbroech vom Bonner Fringe-Ensemble schnell klargemacht: „Unsere Kumpels würden uns auslachen und verachten.“ Aus dem jüdischen Ghetto ist deshalb im Ballsaal ein muslimisches geworden und aus dem verachteten Juden Shylock ein Kanake.
Als Shylock stellen sich die fünf jungen Leute im Rapper-Outfit dennoch höchst selbstbewusst vor. „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? ...“ – so beginnt ihr Shylock-Rap. Es sind genau die bitteren Klageworte des Juden Shylock im dritten Akt von Shakespeares Komödie Der Kaufmann von Venedig. Seine geliebte Tochter Jessica ist mit einem Christen durchgebrannt. Rächen will er sich an der feinen Gesellschaft, die ihn verspottet und beleidigt. Das ihm vertraglich geschuldete Pfund Fleisch aus dem Leib des Antonio will er haben: „Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich ausüben…“. In Shakespeares böser Komödie wird dem alten Shylock mit üblen Tricks und Gewalt am Ende alles genommen: Vermögen, Arbeit, Familienehre und sogar die Reinheit seiner Existenz. Schweinefressender Christ (nun ja: Niemand wird heute noch zum Konsum einer aus religiösen Gründen verbotenen Speise gezwungen) muss er werden, um seine Haut zu retten.
Hoensbroech lässt in seinem „Kaufmann“ zwei Welten aufeinanderprallen, erzählt ansonsten jedoch mit viel szenischem Witz sehr klar Shakespeares Drama. Ein bisschen Taubengurren signalisiert das vertraute Venedig-Klischee, Gondolieri und Brücken werden vergnüglich angedeutet. Auf der Bühne (Ausstattung: Annika Ley) markieren Stühle die Schauplatzwechsel zwischen der Lagunenstadt und Portias Villa. Die bessere Gesellschaft trägt silbrig glänzende Jacketts und wird von drei Profi-Schauspielern (fantastisch wandlungsfahig: David Fischer, Leopold Altenburg und Tina Seydel) verkörpert, die virtuos in alle männlichen und weiblichen Rollen schlüpfen. Was ihnen deutlich leichter fällt als dauernd statt „Jude“ nun „Kanake“ zu sagen, aber „So ist das Leben, Bruder“ (Schwestern sind in dieser Ghetto-Welt nicht angesagt).
Mit ruppigem Witz kommentiert werden die amüsanten Gesellschaftsspiele der Venezianer (zu Shakespeares Zeiten ein interkultureller Brennpunkt – s. Othello) von den neuen Shy­locks, die als Beatboxer und am Keyboard die perfekten Geräusche liefern, bei romantischen Szenen leise ihr MP3-Handy dudeln lassen (Musik: der in Alma Ata geborene, in Weißrussland und Deutschland aufgewachsene Kornelius Heidebrecht) oder sich cool einmischen: „Hey Alter, mach mal bisschen schneller.“ Außerdem lässt Hoensbroech sie zeigen, was sie hervorragend können. Jilou Rasul (ausgebildete Kunstturnerin, Akrobatin und Gewinnerin etlicher Breakdance-Wettbewerbe) liefert atemberaubende Sturzflüge am Vertikaltuch und wirbelt so gelenkig über den Boden, dass den kraftstrotzenden Rappern die Spucke wegbleibt. Dass dieses Mädchen auf die Seite der Bessergestellten wechselt und mit der emanzipierten Portia gemeinsame Sache macht, ist mehr als begreiflich. Auf dem Tanzboden exzellent mithalten kann der ansonsten eher schweigsame Faruk Haziri. Nebil Erdogan singt und spielt charmant den naiven Banden-Youngster. Der bullige Miguel Inserra bringt einen lässigen Venedigsound ins Spiel. „S-Dog“ stilisiert sich als abgebrühter Gangsterrapper-Star.
Die Jungs haben jedoch Shylocks Wut im Bauch und knallen sie den verwöhnten venezianischen Bürschchen voll auf die Birne. Genau mit den Texten von Shakespeare. Die Aufführung ist kein soziales Problemtheater, sondern ein echtes Vergnügen. Die theaterüblichen verwackelten Echtzeit-Videos sind dabei zur Beschleunigung der Handlung ganz nützlich. Das animierte Premierenpublikum im restlos ausverkauften Ballsaal (neben dem Fringe-Ensemble und der Studiobühne Köln Koproduzent der gelungenen Aufführung) erklatschte sich nach 90 kurzweiligen Minuten noch eine musikalisch und tänzerisch brillante Zugabe.
Sehr empfehlenswert auch für Oberstufenschüler. Die TG Bonn arbeitet dafür schon an neuen Terminen im Frühjahr. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 1½ Std., keine Pause
Im Programm bis: vorerst bis 6.02.10
Nächste Vorstellungen: 3.02.,5.02.,6.02.10

Dienstag, 11.01.2011

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