Orlando furioso (Opernhaus) - kultur Nr. 52 - 12/2008

Wunderbarer Liebeszauber und wütender Wahnsinn - Orlando furioso von Antonio Vivaldi in der Oper

Wenn der rasende Roland den Verstand verliert, schwebt seine Seele vom Bühnenhimmel. Und er singt und tanzt eine wilde Follia, bei der sich Vivaldis barocke Klänge mit südamerikanischer Volksmusik vermischen. Der junge, in Argentinien aufgewachsene Rubén Dubrovsky, der in Wien das renommierte Bach Consort gründete, gibt mit Vivaldis bekanntestem Musiktheaterstück in Bonn sein Debüt als Operndirigent und entlockt dem virtuos aufspielenden Beethoven Orchester ein mitreißendes Temperament. Der bis in alle Details perfekt gelungenen, luftig schlanken musikalischen Gestaltung – ein Sonderlob verdienen die Orchestersolis­ten und die fabelhaft präzise fünfköpfige Continuo-Gruppe! – entspricht die höchst intelligente Inszenierung von Aurelia Eggers.
Mit viel spielerischem Witz verstrickt sie die reichlich verwirrten Handlungsfäden der Geschichte, die Antonio Vivaldi und sein Librettist Grazio Braccioli aus dem 1523 erschienenen populären Ritterepos Orlando furioso von Ludovico Ariosto herausgezogen haben. Sie macht da­raus ein leicht surreales Märchen, nimmt jedoch die Figuren und ihre Gefühle ernst und denunziert das Stück nicht durch aufdringlichen Regie-Aktionismus. Die Harmonie zwischen Gesang und Schauspiel ist in der gesamten dreistündigen Aufführung perfekt. Den von allen Regisseuren gefürchteten Dacapo-Arien gewinnt sie differenzierte emotionale Farben ab: Die Wiederholungen spiegeln einen bereits formulierten Gedanken immer in einem anderen Licht oder aus einem neuen Blick­winkel. Das fantastische Bühnenbild von Andreas Wilkens, das Lichtdesign von Thomas Roscher und die traumhaften Kostüme von Birgitta Lohrer-Horres liefern einen bezaubernden optischen Kommentar zu Vivaldis 1727 uraufgeführter barocker Zauberoper, deren großartige Effekte in Eggers Regie mit leichtfüßiger Ironie unterlaufen, aber nicht mutwillig verkleinert werden.
Die Insel der Zauberin Alcina ist eine riesige weiße Marmorplatte, die auf der Drehbühne ab und zu in gefährliche Schieflagen gerät. Darunter lauert der Zivilisationsmüll von Jahrhunderten. Drumherum schwirren gelegentlich drei halb geflügelte Kinder: Amor und La Follia waren muntere Spielkameraden, bevor der Wahnsinn die Liebe blendete und von den alten Göttern zur Strafe als Führer des erotischen Begehrens auserkoren wurde. Die wechselnden Seelenlandschaften tauchen als Projektionen auf: Verkarstete Küsten, blühende Wüsten, tobende Wellen und durchsichtige Wolkenhimmel wie von Vivaldis venezianischem Zeitgenossen Tiepolo.
Alcina, der übrigens Händel 1735 eine Oper aus Ariosts schier unerschöpflichem Stoff widmete, ist das eigentliche Zentrum in Vivaldis Orlando furioso (Der rasende Roland). Die Mezzosopranistin Susanne Blattert verkörpert diese nymphomanische Magierin unverschämt verführerisch und bewältigt ihre halsbrecherischen Koloraturen mühelos. Am Ende wird Alcina als böse Hexe von ihren rachedurstigen Gegnern geradezu demontiert. Dabei hat alles ganz harmlos angefangen. Beim sommerlichen Frühstück erzählte die entzückend naive junge Angelica ihrer hellhörigen Freundin Alcina, dass ihr etwas flatterhaftes, bisher dem starken Orlando versprochenes Herz jetzt dem sanften Medoro gehöre, der leider in den Weiten des Ozeans verschollen sei. Anna Virovlansky brilliert mit glitzerndem Sopran als kokette Angelica, hinter deren engelhafter Erscheinung durchaus verteufelte Kräfte am Werk sind. Den sympathischen Astolfo (mit schön geführtem Bariton als einzige echt männliche Stimme: Lee Poulis), der Alcinas Reizen total verfallen ist, haben die beiden Damen zum besenbewehrten Diener degradiert. Der nette Medoro (mit bezaubernd jungenhaftem Charme: Julia Novikowa) wird ordentlich verdreckt und halbtot an Land geschwemmt und von Alcinas medizinischen Zauberkünsten wieder hergerichtet.
Verrückt nach Angelica landet derweil Orlando mit seinem fliegenden Pferd (der überlebensgroße goldene Gaul besitzt sogar die Fähigkeit, sein Hinterteil auf der einen Bühnenseite zu zeigen und auf der anderen seine vordere Hälfte) auf der Insel und fordert seine Rechte. Die aus Chile stammende Mariselle Martinez ist darstellerisch und stimmlich ein Ereignis. Ihr tiefer Mezzosopran bringt die komplizierten Verzierungen der Orlando-Partie makellos zum Leuchten. Als ritterlicher Kämpfer entfacht sie ein fulminantes Gefühlsfeuer, das alle anderen Lover alt aussehen lässt.
Dass Angelica diesen großen Helden mit einem blutigen Herzstich beinahe umbringt, um mit dem kleinen Medoro ungestört eheliche Freuden zu genießen (der Chor unter der Leitung von Sibylle Wagner hat einen Mini-Auftritt beim grotesken Hochzeitsfest) kann einfach nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Weshalb der grausam verwundete, vor Eifersucht tobende Orlando auch so grandios ausrastet, dass der Theaterhimmel ihm ein Alter Ego in Gestalt des Tänzers Ricardo Diaz zur Wiedergewinnung seiner Fassung gönnen muss.
Den blonden Ruggiero (exzellent: der junge Countertenor Terry Wey – seine Arie „Sol da te mio dolce amor“, auf der Flöte begleitet von Maris­ka van der Sande, gehört zu den musikalischen Höhepunkten) hat die Männer fressende Alcina sich zwischendurch mit Drogen gefügig gemacht und auf der Schaukel vernascht. Was dessen frustrierter und allmählich seitensprungresistenter Gattin Bradamante (Katrin Wundsam als zwischen den Geschlechtern schillerndes und trotzig gerüstetes Energiebündel) entschieden auf den Geist geht. Als mit den betrogenen Männern verbündeter Kavalier Alderico betört sie Alcina jedoch so überzeugend, dass diese schließlich machtlos und arg derangiert dem Paarungswillen der Anderen zustimmt. Was noch keineswegs das Ende der Geschichte sein muss, denn der brave Astolfo wittert seine ultimative Chance bei Alcina, und der geläuterte Orlando ist nach seinem fast tödlichen Ausflug in den Irrsinn schon wieder so voll auf der Rolle, dass er jedes fremde Liebesglück akzeptiert. Alles ist Schein, und wer im amourösen Stimmengewirr Mann oder Frau ist, bleibt ein ewiges Rätsel.
Absolut hörens- und sehenswert!
E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca.3½ Std., inkl. Pause
Im Programm bis: 28.03.09

Dienstag, 08.09.2009

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