La Bohème (Oper Bonn) - kultur Nr. 41 - November 2007

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder die Banalität des Todes - La Bohème von Giacomo Puccini in der Oper

„La jeunesse n'a qu'un temps“ lautet die Überschrift des letzten Kapitels von Henri Murgers Roman Scènes de la Vie de Bohème. Ein Jahr nach dem Tod von Mimi feierten alle vier männlichen Bohémiens ihren künstlerischen / wissenschaftlichen Durchbruch. Der Maler Marcello hatte endlich den Eintritt in den Salon erreicht, stellte dort zwei Bilder aus, von denen eins ein Engländer und früherer Liebhaber von Musette kaufte, und konnte mit einem staatlichen Stipendium nicht nur den größten Teil seiner Schulden tilgen, sondern sich auch eine komfortable Wohnung und ein ordentliches Atelier leisten. Der Musiker Schaunard komponierte Lieder, die überall gesungen wurden und ihm ein Vermögen einbrachten. Das neue Buch des Dichters Rodolfo beschäftigte monatelang die Kritik. Der Philosoph Colline erbte reichlich, heiratete eine gute Partie und gab Soiréen mit Musik und süßen Häppchen.
Dietrich Hilsdorf inszeniert Puccinis La Bohème von diesem Ende her. Weil er ein sehr belesener und ungemein kluger Regisseur ist, lässt er Mimi am Anfang Horváth zitieren, als ob sie die Unbekannte aus der Seine wäre, deren lächelnde Totenmaske zu einer Ikone des Jugendstils wurde und über Rilke bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts nachwirkte: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich - aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln, und das Leben geht weiter, als wär' man nie dabei gewe­­sen - ".
Weil Hilsdorf zudem ein glänzender Musikkenner ist, macht er schon aus der ersten Szene ein hinreißendes Kabinettstück. So genau und witzig hört man die Nöte der in ihrer Dachstube frierenden Künstler-WG selten: Das Beethovenorchester unter der Leitung von Erich Wächter macht Puccinis Musik wunderbar transparent, lässt die Leitmotive leuchten, notiert jede Zeile aus Rodolfos verheiztem Dramenmanuskript, liefert zu Marcellos impressionistischen Malereien musikalische Farbtupfer, macht sich aus Schaunards grotesker, aber lukrativer musikalischer Papageien-Einschläferung einen Jux und kommentiert Collines zynischen Rückzug in die Philosophentonne des Diogenes herrlich ironisch. Die vier wollen den Weihnachtstag feiern, weshalb der alte Hausbesitzer Benoît (Nikolai Miassojedew mit kultiviertem Bass) so viel Wein eingeflößt bekommt, dass er die Schulden seiner Mieter glatt vergisst. Die Rolle des reichen Alcindoro ist gestrichen, Hilsdorf lässt plausiblerweise Benoît als neuen Gönner der koketten Musette auftreten.
Während Rodolfo (Bülent Külekçi mit stabilem Tenor) noch einen Leitartikel in die Schreibmaschine hacken will, klopft seine Nachbarin Mimi an die Tür. Weil ihre Kerze, die sie für ihre nächtliche Heimarbeit als Blumenstickerin dringend braucht, gerade erloschen ist. Dass sie nach dem ersten Funken gleich auch noch ihren Wohnungsschlüssel verliert, macht die Sache zu einem erotischen Spiel, bei dem ein eiskaltes Händchen nicht ganz zufällig auf die wärmenden Finger der hoffnungsvollen Edelfeder trifft. Julia Kamenik spielt und singt mit traumhaft sicherem und emotional facettenreichem Sopran die fragile Mimi nicht nur als blasses, schwindsüchtiges Opfer, sondern als junge Frau, die ihre Anziehungskraft auch ökonomisch zu nutzen weiß.
Sigrún Pálmadóttir macht als flatterhafte Musette mit ihrem glitzernden Sopran nicht nur dem braven Marcello die Hölle heiß, sondern ist auch als Mimis liebevolle Sterbehelferin ein Glanzlicht. Die Spritze, die sie ihr gemeinsam mit Marcello (hervorragend: der junge Bariton Aris Argiris) mitleidig setzt, könnte auch etwas anderes enthalten als ein Herzmittel. Mark Morouse gibt einen eleganten Schaunard, Martin Tzonevs kraftvoller Bass schlägt Funken aus Collines philosophischem Weltschmerz und setzt in seiner Mantel-Arie einen virtuos komischen Akzent vor Mimis trauriges Ende in der zum Sterbebett umfunktionierten Blechwanne.
Hilsdorf verweigert sich in seiner höchst spannenden Inszenierung jeder süßlichen Idyllisierung des ärmlichen Bohème-Lebens im Pariser Quartier Latin. Er spart auch nicht mit ironischen Seitenhieben: Der Pariser Frauenmörder Monsieur Verdoux bringt kurz eine Prostituierte um die Ecke, Flauberts Emma Bovary und Giraudoux' Irre von Chaillot geistern durch die turbulenten Massenszenen (hinreißende Kostüme von Renate Schmitzer). Der von Sibylle Wagner wieder mal auf Höchstform gebrachte Opernchor macht den Pariser Weih­nachtstrubel ums Café Momus zu einem musikalischen und spielerischen Ereignis. Der Kinderchor unter Ekaterina Klewitz saust in Schuluniformen durch die engen Gassen und wird von strengen Nonnen zur Raison gebracht. Ein Tambourmajor sorgt für militärische Ordnung im Getümmel.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder die Banalität des Todes - La Bohème von Giacomo Puccini in der Oper

Die Künstler und Denker hausen auf einem offenen Podest, das Dieter Richter ihnen statt der engen Mansarde als Bühne auf die Bühne gebaut hat, wie eitle Selbstdarsteller, die ihr gesamtes Leben als Theater begreifen. Sie verlangen nach Publikum, so wie sie selbst dableiben und ungeniert zuschauen, wenn Mimis kurzes Leben zu Ende geht. Fast unmerklich hebt und senkt sich die tonnenschwere Kuppel über der bescheidenen Künstlermansarde (Riesenkompliment an die präzise Bühnentechnik der Bonner Oper!) und macht ab und zu ganz leise den Raum für die Utopie einer echten Liebe groß. Als gäbe es in dem atemlosen Leben der lungenkranken Mimi doch noch Luft zum Atmen.
In ihre letzten Atemzüge mischen sich bereits Rodolfos Schreibmaschine und Marcellos über die Leinwand jagende blutrote Malkreide: Mimis Unglück wird zur Quelle ihrer künstlerischen Inspiration. Der Erfolg ist ihnen sicher. So wie Puccini selbst mit La Bohème eines seiner berühmtesten Meisterwerke schuf. Hilsdorfs Inszenierung reflektiert das völlig unsentimental und gerade deshalb zutiefst berührend. Mit einem ebenso unbestechlich genauen Blick wie Proust in seinem subtilen Epochenporträt À la recherche du temps perdu.
Positiv zu vermerken ist ganz nebenbei die sprachliche Qualität der deutschen Übertitelung. Also eine absolut sehens- und hörenswerte Aufführung, mit der sich die Bonner Oper nach dem Freax-Debakel wieder den Klassenerhalt gesichert hat!
Dietrich Hilsdorf wurde kürzlich für den Deutschen Theaterpreis nominiert. Allein sein unvergesslicher Bonner Händel-Zyklus, sein soeben wieder aufgenommener brillanter Otello und diese neue Bohème beweisen unzweifelhaft, welch hervorragender Opernregisseur er ist. Weil er nicht auf vordergründige Effekte setzt, sondern auf handwerkliche Perfektion und kreative Intelligenz. E.E.K.

Aufführungsdauer: ca. 2 1/2 Std, inkl. Pause
Im Programm bis: 30.03.08

Donnerstag, 17.03.2011

Zurück

Merkliste

Veranstaltung

Momentan befinden sich keine Einträge in Ihrer Merkliste.


Letzte Aktualisierung: 19.04.2024 09:01 Uhr     © 2024 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn