Roger, Marie-Sabine: Das Labyrinth der Wörter

kultur 70 – November 2010

Sollten Sie eines Tages im Park spazieren gehen und auf einer Bank ein etwas ungewöhnliches Paar beim Taubenzählen beobachten können, dann haben Sie Germain und Margueritte getroffen!
Aber dazu müssten Sie nach Frankreich fahren, also stelle ich sie Ihnen lieber hier und heute vor: Margueritte, eine sehr zierliche kleine alte Dame, sehr kultiviert mit Hochschulabschluss und Doktortitel, und Germain, 45 Jahre alt, ein etwas einfältiger Riese ohne Schulabschluss oder Beruf, er lebt in einem Wohnwagen, züchtet Gemüse, ist Gelegenheitsarbeiter und fast Analphabet.
Unterschiedlicher können zwei Menschen kaum sein, doch sie kommen ins Gespräch und freunden sich an, denn sie treffen sich öfter und nicht nur zufällig.
Germain berichtet die Geschichte, wie sie zunächst nur gemeinsam Tauben zählen, sie ihm später vorliest und er zaghaft und langsam Eingang findet in ihre Welt des Geistes, der „Wörter“. Es ist ein Labyrinth für ihn, er kennt es nicht und weiß nicht, wie man es schreibt. Das Lexikon, das sie ihm schenkt, kann er deshalb erst gar nicht benutzen. Aber seine Welt verändert sich, plötzlich hat er Gefühle (vielmehr erkennt er sie als solche), er denkt nach – über sich, seine Mutter, die er hasst, seinen Vater, den er nicht kennt, seine Freunde, die er plötzlich verblüfft mit Worten, die ihnen fremd sind... Er verändert sich. Wenn er mit Anette geschlafen hat, will er auf einmal bei ihr bleiben und ruhig sein und fragt sich erstaunt, ob das etwa Liebe ist? Er will Gutes tun, er will nun unbedingt lesen lernen, um Margueritte, die erblindet, vorlesen zu können, er sieht mit anderen, plötzlich wachen Augen um sich, und es ist faszinierend und rührend, ihn dabei zu begleiten.
Zwei einsame Menschen treffen sich, zwei Lebenskreise berühren sich, ein „Labyrinth“ wird zugänglich – und (beinahe) alles wird gut.
Ein wunderschönes zartes leises Buch wurde uns geschenkt von einer Autorin, die Grundschullehrerin war und Kinderseelen kennt und wecken kann, auch wenn sie in einem 45-jährigen Mann schlummern.

Das Labyrinth der Wörter
von Marie-Sabine Roger
Hoffmann und Campe,
Februar 2010,
208 Seiten, gebunden, 18,00 €

Donnerstag, 11.10.2012

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