Pásztor, Susann: Ein fabelhafter Lügner

kultur 69 - Oktober 2010

Joschi, die Hauptfigur, der „Titelheld“, ist tot. Er wäre an diesem Wochenende 100 Jahre alt geworden, und so beschließen seine Kinder, das zu feiern. Sie wissen nicht genau wie, aber sie sind sich einig wo: in BUCHENWALD. Dort nämlich war Joschi als ungarischer Jude während der Nazizeit inhaftiert. Niemand kannte ihn wirklich oder lange, auch seine Kinder kennen einander kaum. Sie haben alle eine andere Mutter und wuchsen bei ihr auf. Als sie 14 waren, lernten die beiden Schwestern, nur 5 Monate im Alter auseinander, einander kennen. Der Älteste, Gabor, taucht erst bei Joschis Beerdigung auf. Und nur Marika hat eine Tochter, Lily. Lily ist 16 und dabei in Buchenwald, sie erzählt die Geschichte, sie will ein Referat schreiben für die Schule: wie sie ankommen in Weimar, sich begrüßen, nach Buchenwald fahren, das ehemalige KZ, nur 10 km von der Stadt entfernt auf dem Ettersberg gelegen. Heute ist es ein riesiges Areal, leer bis auf wenige Gebäude, die Dokumentationen des Grauens bergen, und Hinweis-Schilder, die festhalten, wo was gewesen und geschehen ist, und steinerne Tafeln über den Massengräbern. Lily ist viel zu betroffen, um sich Notizen zu machen für ihr Referat. Jeder von den vieren geht allein und reagiert anders, nur Hannah war schon mal hier, sie kultiviert ihre jüdischen Wurzeln. Joschis erste Frau und die beiden Kinder kamen in Auschwitz um. Plötzlich fragen sich die drei Halbgeschwister, ob Joschi überhaupt ein Jude war, jeder von ihnen hat ein anderes Vaterbild, er war ein „fabelhafter“ Lügner, das steht fest. Ansonsten ist das Wochenende in Weimar zunächst alles andere als harmonisch. Es ist schwierig, die völlig verschiedenen Biografien, auch die von Joschi, unter einen Hut zu bringen, eine friedliche Verbindung herzustellen, miteinander zu reden oder sogar zu lachen. Lily beobachtet und berichtet, wird Teil und Initiator mit dem nötigen Abstand und der Unbefangenheit ihrer Jugend.
Die Gedenkfeier für den Ahnherrn findet nächtlich und illegal auf verbotenem Terrain statt, wo sie chinesische Friedenslaternen für die Toten in die Luft steigen lassen und im Morgengrauen auf der Polizeiwache landen. Aber sie sind sich einig geworden und zufrieden, es ist ja auch nichts passiert, und sie fühlen sich beinahe wie eine richtige Familie.
Es ist der erste Roman der Autorin, die bisher Kinderbücher illustriert hat. Es ist ein scheinbar federleichter Roman, ohne im mindesten seicht zu sein, eine durchaus ungewöhnliche Geschichte über einen fabelhaften Lügner, der schon lange tot ist.

Ein fabelhafter Lügner
von Susann Pásztor
Kiepenheuer & Witsch,
Februar 2010,
208 Seiten, gebunden, 17,95 €

Donnerstag, 11.10.2012

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