de Waal, Edmund: Der Hase mit den Bernsteinaugen

kultur 83 – Februar 2012

Er ist ein NETSUKE, der Hase, einer von 246 jener kleinen aus Holz oder Elfenbein geschnitzten Kostbarkeiten aus Japan, die sich bei der Familie Ephrussi durch Generationen vererbt haben.
Aus Odessa sind sie im 19. Jahrhundert ausgewandert, haben sich niedergelassen in Wien und Paris, ein Bankhaus und Filialen gegründet, Handel getrieben und sind dabei und damit unermesslich reich geworden. Sie waren klug und gebildet, kaufmännisch geschickt, heirateten „passend“, waren Sammler und Mäzene.
Als die Nazis herrschten und die Juden vertrieben und ermordet wurden, fanden einige von ihnen ein neues Leben in den USA, einer ging nach Tokio, der Erzähler wurde in England geboren und ansässig.
Er schreibt eine riesige Familiensaga, aber das Besondere an ihr ist, wie er den Zweigen der Familie nachspürt und sie, die lange tot sind und die er nie kennenlernte, zum Leben erweckt. Er reist nach Odessa, nach Wien, Paris und Tokio, er steht vor den Häusern, die Palästen glichen, er beschreibt die Bilder der frühen Impressionisten aus den Sammlungen und kehrt immer wieder zurück zu den Netsukes, die er geerbt hat, die Krieg, Enteignung, Tod und Vertreibung der Besitzer überlebt haben, weil eine treue Dienerin sie versteckte.
Es ist eine große Kunst, so zu erzählen, dass man die persönliche Rede gar nicht vermisst und die Personen scheinbar wirklich agieren. Es gibt keine Ephrussis mehr. Edmund de Waal hat sie verinnerlicht und mit ihnen auch hundert Jahre europäischer Geschichte hörbar gemacht. Aber die Netsukes, den Hasen und die anderen 245 gibt es noch, sie kann man anfassen und ihnen lauschen, sie berichten von einer Zeit, die vergangen ist und so nie mehr wiederkehren wird.

Der Hase mit den Bernsteinaugen
von Edmund de Waal
Zsolnay, 8/2011
352 Seiten, gebunden,
19,90 €

Donnerstag, 11.10.2012

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