de Bernières, Louis: Traum aus Stein und Federn

kultur Nr. 28 - Juni 2006

Ware Sie mal in Marrakesch? Da gibt es einen „Platz der Gaukler“, auf dem sich alles trifft. Jeder zeigt, was er kann, ein buntes Gewimmel von Menschen, Tieren, Touristen. Und dann gibt es ein Terrain, wo es ganz still ist, da sitzen Menschen und lauschen und flüstern. Es sind die, habe ich gemerkt, die lesen und schreiben für die, die es nicht können und sich ihnen anvertrauen. Sie sitzen auf dem Boden dicht nebeneinander und es ist eine merkwürdige Aura um sie - und wir, die wir als Kinder lesen und schreiben lernen und uns somit Welten öffnen, ohne es zu wissen oder zu schätzen, werden betroffen und nachdenklich. So ging es mir jedenfalls!
Dieses dicke Buch mit dem undurchschaubaren Titel hat mich an den Platz der Gaukler erinnert. Es ist ein wundersames Buch, der Autor ist Engländer und 50 Jahre alt, und man kennt von ihm „Corellis Mandoline“, das im 2. Weltkrieg zwischen Griechenland und Italien spielt (sehr empfehlenswert).
Merken Sie, dass ich mich vor dem Inhalt drücke? Er ist nicht zu erzählen. Es ist ein gewaltiges Epos von Liebe und Tod, von „Stein und Federn“, ein Kaleidoskop von Schicksal und Schicksalen, Ausweglosigkeit und ganz wenig Hoffnung. Eine Geschichte des Nahen Ostens, wo Christen, Juden, Muslime nebeneinander leben, sich hassen, umbringen, vertreiben, erobern, doch auch immer wieder verschwistern in Armut und nachbarschaftlichem Verständnis. Sie können nicht lesen und nicht schreiben im kargen Anatolien, sie kämpfen in Kriegen, die sie nicht interessieren und nicht verstehen, sie sind heute Türken und morgen Griechen, und was die Engländer oder die Deutschen (die sie Franken nennen), von ihnen und mit ihnen wollen, begreifen sie schon gar nicht. Es geht jahrhundertelang so, und nur das Land bleibt sich gleich, prägt seine Bewohner und ernährt sie, spärlich, aber zuverlässig.
Bernières kommt mir vor wie ein orientalischer Geschichtenerzähler, der irgendwo auf dem Platz der Gaukler sitzt, eine Menge Zuhörer um sich schart und unentwegt erzählt, scheinbar zusammenhanglos, aber doch am Ende wie einen riesigen Gobelin einen Traum zeigt aus „Stein und Federn“, der das ganze Universum umfasst, der Verstehen und Verständnis möglich macht, wenn man sich darum bemüht. Wie sagte ich zu Anfang? Es ist ein wundersames Buch.

Donnerstag, 19.01.2012

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