Wolfgang Lischke - kultur Nr. 4 - 2/2004

Elisabeth Einecke-Klövekorn trifft Wolfgang Lischke - Erster Kapellmeister der Bonner Oper und Dirigent von "Anatevka"

Kapellmeister - das klingt so gar nicht nach genialischem Tonkünstler, sondern eher nach solidem Handwerker. Wolfgang Lischke, 1970 in München geboren, nimmt die schöne traditionelle Berufsbezeichnung durchaus als Kompliment, aber eigentlich ist sein Beruf ganz einfach Orchesterdirigent. Seit Beginn dieser Spielzeit arbeitet er an der Bonner Oper, und wie sehr ihn diese vielfältige Aufgabe fasziniert, merkt man ihm im Gespräch zwischen zwei Proben an.
An diesem Adventsnachmittag gehen ihm die Wiederaufnahmen von "Hänsel und Gretel" und der "Zauberflöte" durch den Kopf. „Natürlich setzt man auch bei einer ‚fertigen' Aufführung, die man nicht von Anfang an einstudiert hat, als Dirigent eigene Akzente, baut jedes Mal neue Spannungen auf und versucht, die Aufmerksamkeit im Orchestergraben, auf der Bühne und im Publikum so wach zu halten, dass keine allzu große Gewöhnung eintritt. Ich probiere eigentlich bei jeder Vorstellung etwas Neues aus, auch wenn das Risiko selbstverständlich für alle Beteiligten ausgewogen sein muss. "
Angefangen hat Lischke, der als Schüler Klavier, Posaune und Orgel spielte, als Kirchenmusiker. Schon mit 16 Jahren leitete er eine Blaskapelle und einen Kirchenchor - ursprünglich meinte "Kapellmeister" nichts anderes als "musikalischer Leiter eines kirchlichen oder höfischen Ensembles", erst im bürgerlichen 19. Jahrhundert mit der Arbeitsteilung von Komponist und Dirigent als kongenialem Interpreten geriet der bloß den Takt schlagende Kapellmeister in Verruf.
„Je besser ein heutiges Orchester ist, um so mehr verlangt es nach der musikalischen Idee, je schlechter, nach den ‚kapellmeisterlichen' Taktschlägen", sagt Lischke und verbindet damit gleich ein Lob an das Beethoven Orchester Bonn: „Das fordert einen Dirigenten entschieden, setzt sich mit Interpretationen auseinander; und außerdem befruchten sein symphonischer Anspruch und seine selbstständige Konzerttätigkeit die Opernbegleitung nachdrücklich - umgekehrt auch."
Sein Dirigierstudium an der Hochschule für Musik in München bestand Lischke 1996 mit Auszeichnung (Diplomkonzert mit den Münchner Symphonikern) und schloss es 1998 mit dem Meisterklassendiplom ab. Anschließend ging er als Kapellmeister und Solorepetitor nach Passau, von 2000 bis 2003 war er Kapellmeister und Studienleiter am Theater Hof. Dort, wo er zeitweise noch wohnt, hat er etliche eigene Produktionen geleitet und sich ein umfangreiches Repertoire erarbeitet. Dort hat er auch das Dirigieren in der Praxis des Musiktheaters gründlich gelernt. Für ihn bedeutet das: Viele Eindrücke sammeln, erfahrenen Dirigenten über die Schulter schauen, mit Inszenierungsteams zusammenarbeiten und sich mit ihnen auf ein Ziel einlassen. Von der Regie erwartet er ein sicheres Gespür für die musikalischen Vorgänge insgesamt, er selbst konzentriert sich gern auf die Feinstrukturen und die möglichen musikalischen Motivationen. „Musik und Dialog - das ist immer eine gemeinsame Erfahrung am lebenden Objekt."
Bei Verdis "Macbeth", mit dem der von Lischke sehr bewunderte neue Generalmusikdirektor Roman Kofman seinen Einstand an der Bonner Oper gab, war er bei fast allen Proben dabei, hat einige dirigiert, die Sänger kennen gelernt, mit ihnen an ihren Partien gearbeitet und nach der Premiere bei mehreren Vorstellungen die musikalische Leitung übernommen. "Kapellmeister sind oft die zweiten am Pult und prüfen den Nachgeschmack", meint er augenzwinkernd. Dass auch der sich bestens bewährt hat, weiß er inzwischen.
Der erste am Pult war er bei dem Musical "Anatevka", mit dem er sich dem Bonner Publikum als musikalischer Leiter einer Produktion sehr erfolgreich vorgestellt hat. Dem Musical und der Operette gehört ohnehin seine besondere Sympathie. Sie erlauben viele Freiheiten bei der musikalischen Gestaltung und der spielerischen Interpretation. Bei "Anatevka" sind es besonders der Chor und das Zusammenwirken von Sängern und Schauspielern, was ihn bei jeder Vorstellung von neuem anregt.
Sein anderer Schwerpunkt ist die zeitgenössische Musik. Schon während des Studiums hat er an vielen internationalen Meisterklassen und Dirigierseminaren teilgenommen und zahlreiche moderne Komponisten und Dirigenten kennen gelernt, z.B. Pierre Boulez, Harrison Birtwistle und Peter Eötvös, den er als seinen wichtigsten Förderer nennt. Beim Festival von Aix-en-Provence hat er das Ensemble intercontemporain dirigiert und wurde von diesem gleich für die Einstudierung von Karl Heinz Stockhausens "Hymnen" in Paris engagiert. Die Uraufführung von Stockhausens "Hoch-Zeiten" 2002 mit dem WDR-Orchester hat er mit betreut. Mit diesem Klangkörper arbeitet er inzwischen regelmäßig. Andere Stationen seiner steilen Karriere sind eine Konzertreihe mit Yo-Yo Ma im Rahmen des "Silkroad-Projekts“, das Radiosymphonieorchester Hilversum, Konzerte in Kopenhagen, Frankfurt am Main und Berlin sowie das Ensemble Modern, mit dem er gerade ein größeres Projekt vorbereitet. Konkrete Formen nimmt außerdem schon die nächste Produktion in der Reihe "Bonn Chance" an: Am 25. März ist unter seiner Leitung in der Bundeskunsthalle die Premiere von Sylvano Bussottis 1965 uraufgeführter erster Oper "La Passion selon Sade", kombiniert übrigens mit Mozarts frühem Singspiel "Bastien und Bastienne". Lischke mag solche originellen Kontraste und auch das Bonner Konzept der ‚zweiten Chance', der neuen Aufführung von zu Unrecht fast vergessenen Stücken, wie z.B. Birtwistles "Punch and Judy" im Frühjahr 2003. Daran möchte er gern anknüpfen, obwohl er natürlich auch im ‚klassischen' Opernbereich noch vieles entdecken will. Verdi, Mozart, Humperdinck, Musical und Avantgarde des 20. Jahrhunderts - das ist in seiner ersten Bonner Spielzeit schon ein weites Spektrum. Im Klartext: Vormittags meistens Einstudierungen, Orchesterproben, Einzelarbeit mit den Sängern, Inszenierungsgespräche, nachmittags szenische und sonstige Proben, abends Dirigate - ist der Erste Kapellmeister eigentlich ein Workaholic? „Nein, ich bin ein überzeugter Faulenzer; ich brauche immer wieder Ruhe, um Partituren zu analysieren, eigene Wege, ein unverwechselbares gestisches Vokabular und je besondere Vermittlungsstrategien zu finden."
Bei allem Pluralismus und Cross-Over auf der Bühne hat er auch noch richtige Träume: In Bonn mal eine große Operette musikalisch leiten, oder - ein alter Jugendtraum - am Münchner Nationaltheater den "Rosenkavalier". Wolfgang Lischke ist in seiner unprätentiösen und zupackenden Art ein Typ, dem man die Verwirklichung von Träumen zutraut. Er gibt auch unumwunden zu, dass Dirigieren etwas mit Macht zu tun hat - und deshalb mit Verantwortung.
Wenn im Orchestergraben das Licht auf seinen fast kahlen Schädel fällt (die schimmernde, weiße Künstlermähne überlässt er neidlos seinem ziemlich genau doppelt so alten Chef Roman Kofman), steuert er lustvoll einen Riesentanker. Das Bonner Publikum findet er toll, wünscht sich aber (mit selbstbewusster Ironie) noch mehr ermutigenden Applaus für den Kapitän vor der großen Fahrt: „Solche Opernrituale gehören vielleicht zu den letzten schönen Traditionen der alten europäischen Kultur, auch wenn sie nicht immer das Gelingen eines komplizierten Konstrukts, wie es das Musiktheater nun mal ist, garantieren."
E. E.-K.

Dienstag, 04.03.2014

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