Tina Jücker und Claus Overkamp - kultur 87 - Juni 2012

Elisabeth Einecke-Klövekorn trifft Tina Jücker und Claus Overkamp: Künstlerische Leiter des Theaters Marabu

Gerade haben sie eine Kindergartengruppe verabschiedet, die die erste Vormittagsvorstellung des neuen Stückes Schwester (s. Kritik S. 9) besuchte. „Nach der Premiere und der Familienvorstellung beginnt jetzt quasi die Testphase, wie die Inszenierung bei den Kindern ankommt. Jede Gruppe reagiert anders; das ist ein spannender Prozess“, erklärt Claus Overkamp, der bei der Produktion Regie geführt hat. „Erwachsene glauben oft, dass sich beim Kindertheater alles sofort erklären muss. Kinder verstehen viele Dinge ganz direkt, sind aber auch sehr kritisch.“ Schlichtes ‚Zielgruppentheater’ wollten er und seine Lebensgefährtin Tina Jücker gewiss nicht machen (und tun das bis heute nicht), als sie 1993 das Theater Marabu gründeten, das inzwischen zu den renommiertes­ten freien Kinder- und Jugendtheatern Deutschlands gehört.
Kennengelernt haben sie sich während ihrer neben bzw. nach dem Hauptstudium absolvierten Ausbildung an der Akademie Remscheid für musische Bildung und Medienerziehung. An diesem bundes- und landeszentralen Institut für kulturelle Jugendbildung arbeitet Tina Jücker seit 2008 selbst als Gastdozentin für Theaterpädagogik. Geboren wurde sie 1962 in Piesport an der Mosel. Ihr Studium der Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt „Ästhetik und Kommunikation“ schloss sie mit einer Diplomarbeit über „Emanzipatorische Formen des Kinder- und Jugendtheaters“ ab. „Die Bühne hat mich immer schon fasziniert. Mein Vater spielte in einer Hobby-Theatergruppe unseres Dorfes; mein erstes Geld verdiente ich mir dort durch alle möglichen Aushilfen.“
Claus Overkamp kam 1963 in Essen zur Welt, studierte in Marburg und Duisburg Sozialwissenschaften und fand über ein Seminar zum politischen Theater des brasilianischen Regisseurs und Theatertheoretikers Au­­gus­to Boal den Weg zur Bühne. Claus gab seine angefangene Dissertation auf, Tina kündigte ihren Job als Geschäftsführerin des Bundesverbandes Studentische Kulturarbeit: Die beiden wurden die „Marabus“. Ihre erste Premiere feierten sie in Wuppertal mit dem Kinderstück Kiebich und Dutz von Friedrich K. Waechter. Ihre nächsten beiden Stücke kamen dann schon im Bonner Kulturzentrum Brotfabrik heraus, wo die Marabus in der Werkstatt eine feste Bleibe fanden.
In Remscheid haben sie auch Marcel Cremer (1955 – 2009) kennengelernt, den Leiter des Theaters „Agora“ im belgischen St. Vith. Bei einem Sommer-Workshop zu seinem Konzept des ‚autobiographischen Theaters’ erzählte Tina von ihren Hochwasser-Erlebnissen an der Mosel. „Das gehört auf die Bühne“, erklärte Marcel und übernahm selbst die Regie. Mit dem Wasserkind begann 1997 die Erfolgsgeschichte der Marabus. Die Produktion wurde 1998 als eine der bundesweit ­besten zum Berliner Festival „Augenblick mal“ und zum NRW-Kinder- und Jugendtheatertreffen in Oberhausen eingeladen. Als sie dort keinen Preis der offiziellen Jury erhielten, stiftete der Oberhausener Intendant Klaus Weise (heute Bonner Generalintendant) spontan einen Sonderpreis und bewies damit sein sicheres Gespür für besondere Qualität. Die Liste der bis heute folgenden Preise, Festival-Einladungen und internationalen Gastspielreisen der Marabus würde mehrere kultur-Seiten füllen.
„Ihr müsst jetzt wirklich professionell werden“, hatte Marcel Cremer ihnen schon zuvor geraten. „Wir haben unsere ganzen privaten Ersparnisse zusammengekratzt und bei unseren Familien Geld geliehen, um unseren ersten kleinen ‚MaraBus’ und eine technische Grundausstattung zu kaufen“, berichten Tina und Claus. „Froh über jeden Cent sind wir immer noch. Projektgelder, Produktionskostenzuschüsse und Gastspiele sind ein unverzichtbares Standbein neben der institutionellen städtischen Förderung von jährlich 35.000 Euro und den 38.000 Euro vom Land. Wir würden gern noch öfter in Bonn spielen, aber das ist einfach nicht finanzierbar.“ Festivals, Gastspiele und Treffen mit Kollegen aus aller Welt sind aber auch eine künstlerische Bereicherung. Kürzlich haben sie in Weißrussland einen Regisseur und eine Regisseurin getroffen, mit denen sie jetzt ein Stück auf der Basis von E.T.A. Hoffmanns Sandmann-Erzählung planen. „Kooperationen kann man aber nicht politisch verordnen, zumal sie kein Geld sparen sondern eher was kosten. Die kreative Chemie muss stimmen, alles andere ist teurer Unfug“, finden nicht nur die Marabus.
Mit dem Theater „Agora“ z.B. gibt es auch über den frühen Tod von Marcel Cremer hinaus einen lebhaften Austausch. Die in Bonn herausgekommene große Produktion Heute: Kohlhaas, vor kurzem ausgezeichnet mit dem Marburger Theaterpreis, hat Overkamp mit dem „Agora“-Ensemble inszeniert. Die französischsprachige Premiere fand in Brüssel statt. Auch von Ein Schaf fürs Leben gibt es eine französische Version, mit der die Marabus gerade in Südfrankreich unterwegs waren. Mit diesem Stück, in dem Tina spielt und Claus Regie führte, wurden die Marabus 2009 als eine der drei bundesweit bes­ten Kinder- und Jugendtheater-Produktionen sogar für den „Faust“-Preis des Deutschen Bühnenvereins nominiert. Als kleines freies Bonner Theater gegen eine riesige Konkurrenz auf einen solchen Spitzenplatz zu geraten, grenzt an ein Wunder. Den NRW-Theaterpreis bekamen die Marabus 2011 für Frau Meier, die Amsel, wo Tina und Claus in der Regie von Rüdiger Pape ein hinreißendes altes Paar verkörpern.
Das im freien Kinder- und Jugendtheater durchaus übliche Konstrukt „Zwei plus x“, also ein Künstlerpaar mit irgendwie bezahlbaren Freunden, haben sie längst durchbrochen und schon früh immer wieder auf neue künstlerische Handschriften bei Konzeption, Regie und Schauspiel gesetzt. „Bei einigen unserer aktuellen Stücken stehen wir gar nicht mehr auf oder hinter der Bühne, sondern ermöglichen sie“, sagt Tina Jücker, die sich besonders um den Theaternachwuchs kümmert. Mit dem Stück Zwischenzeit begann 1999 nämlich eine weitere Erfolgsgeschichte: die der „Jungen Bühne Bonn“, die sich inzwischen „Junges Ensemble Marabu“ (JEM) nennt. Jugendliche und junge Erwachsene haben hier einen überregional Aufsehen erregenden Theaterexperimentierplatz, zu dessen Fundamentierung es seit 2003 den Verein „Marabu Projekte“ gibt. Die JEM-Version von Büchners Woyzeck wurde 2011 als einzige Produktion eines freien Theaters zum Bundestreffen der besten Jugendclubs an Theatern eingeladen. Mit Über Wasser Unter Gedanken gastierte JEM 2012 in der weißrussischen Stadt Magilov.
Viele junge Menschen starteten bei den Marabus ihre Theaterkarriere. Einige Zugvögel kehrten auch zurück. Bene Neustein und Julia Rehn z.B. spielen die Geschichte von Lena in der Regie von Hannah Biedermann, die nun als Schwester zu sehen ist. Alle sind Marabu-Küken und jetzt so flügge, dass Tina und Claus stolz auf ihre Brut sein dürfen und weiterarbeiten können am klugen Umgang mit Grundfragen des Lebens. Solide neue Holzbänke für die Zuschauer hat ihnen übrigens privat das Bonner Ehepaar Jutta und Dr. Helmut Nellen gestiftet.
Zum rekordverdächtigen 13. Mal wurden die Marabus gerade wieder zu den Besten des Landes NRW gekürt und treten demnächst mit ihrem Kohlhaas beim Festival „Westwind“ in Paderborn auf. Zum 20-jährigen Bestehen der Marabus kommt das große NRW-Kinder- und Jugendtheaterfestival 2013 nach Bonn.

Montag, 29.10.2012

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