Tanja von Oertzen - kultur Nr. 10 - 10/2004

Elisabeth Einecke-Klövekorn trifft Tanja von Oertzen - Zwischen der morbiden Hofgesellschaft Racines und dem diskreten Charme der Amsterdamer Bourgeoisie

Sie setzt „die disparaten Teile des Textes Stück für Stück aneinander, sortiert und untersucht sie wie Teile eines Puzzles und hält sie deutlich konturiert dem Publikum zur Betrachtung hin. Alle Aggregatzustände der abwesenden Anwesenheit, das Entgleiten und das Sich-Stellen, das Abwehren und das Beschwören von Bildern stellt sie klug stilisierend und mit einer Behutsamkeit aus, die doch nichts Unentschiedenes hat." So beschrieb "Theater Heute" Tanja von Oertzen bei der deutschsprachigen Erstaufführung von Harold Pinters "Asche zu Asche" 1997 in Basel in der Regie von Peter Palitzsch. „Die Rebecca mit all ihren hellsichtigen Verdrängungen in diesem Zweipersonenstück von Pinter war tatsächlich eine meiner Lieblingsrollen. Er schreibt wunderbare Dialoge mit Tiefendimensionen, die man genau ausloten muss." Von Oertzen, eine fast knabenhaft zierliche Frau mit blondem Kurzhaar, ist trotz ihrer brillanten Theaterkarriere das absolute Gegenbild einer Diva. Merkwürdig unscheinbar und ein bisschen burschikos in Jeans und Schlabberpulli sitzt sie im Wintergarten der Galerie von Marlies Rosenzweig, die in ihrem Haus an der Bonner Hausdorffstraße ein paar Gästewohnungen für das Theater Bonn reserviert hat und dort seit vielen Jahren mit umsichtiger Zurückhaltung für das Wohl der probengestressten Künstler sorgt. „Sie verdient ein großes Lob nicht nur als kompetente Galeristin, sondern auch als Theaterfreundin, schreib das ruhig mal!" - Tanja sagt auch als Privatperson nie etwas, was sie nicht ganz genau so meint.
Ihr Onkel Peter von Oertzen gehört seit den 50er Jahren zu den prominenten linksintellektuellen Köpfen Deutschlands und war von 1970 bis 1974 Kulturminister in Niedersachsen. Sie selbst wurde 1950 in Moskau geboren und hat einen russischen Kindergarten besucht: „Die Sprache habe ich leider fast ganz vergessen, aber geprägt haben mich die frühen Erfahrungen in der Sowjetunion schon." Ihr Vater, ein renommierter Physiker, absolvierte dort nach dem 2.Weltkrieg einen längeren Forschungsaufenthalt, bevor die Familie Mitte der 50er Jahre nach Mannheim zog. „Eigentlich hatte er Pianist werden wollen, und sein Steinway dominierte auch unsere Moskauer Wohnung." Tanja wollte nach dem Abitur an einem süddeutschen Internat eigentlich Tänzerin werden und hat in Stuttgart bei dem großen Choreographen John Cranko trainiert. „Ich habe aber ziemlich schnell gemerkt, dass ich allein mit dem Körper nicht das aussagen konnte, was ich wirklich meinte und mich deshalb für das Schauspiel entschieden."
An der Stuttgarter Schauspielschule hat sie viele berühmte Regisseure kennen gelernt.
Einer davon war Peter Palitzsch, Bertolt Brechts Assistent am Berliner Ensemble und nach dessen Tod einer der führenden Köpfe dieses Theaters, der nach dem Bau der Mauer die DDR verließ. Als Tanja von Oertzen in Stuttgart in einer winzigen Hosenrolle in "Mutter Courage" debütierte, war Palitzsch Intendant des dortigen Württembergischen Staatstheaters, bevor er 1972 in die Leitung der neu gegründeten städtischen Bühnen Frankfurt wechselte. Tanjas Lehrer Peter Roggisch hat sie nach ihrer Ausbildung und einem ersten Engagement in Krefeld für das Frankfurter Ensemble empfohlen. 1974 hat sie den mehr als 30 Jahre älteren Peter Palitzsch geheiratet. „Die Arbeit mit dem eigenen Ehemann war anfangs nicht immer einfach zu handhaben, aber im Alltag entscheidet dann die Arbeit an den Inhalten und der Sprache. Wir leben nicht dauernd zusammen, aber die seelische Nähe verbindet uns bis heute über alle Generationenunterschiede hinweg." Sie sagt das sehr nachdenklich und fügt noch hinzu: „Palitzsch arbeitet sehr frei, hat aber immer ein ganz klares Ziel. Jede Szene ist intellektuell präzis analysiert, den Rest überlässt er mit großem Vertrauen den Schauspielern."
Unzählige Theaterrollen haben sie von Frankfurt u. a. nach Düsseldorf, Bonn und München und als Gast an fast alle großen deutschsprachigen Bühnen geführt. „Düsseldorf war eine besonders spannende Station, weil der Regisseur Peter Löscher dort Ende der 70er Jahre eine eigene, dem Schauspiel angeschlossene Gruppe gegründet hatte, die verrückte Experimente wagte und verschiedene Spielweisen ausprobierte. Leider hat das Ganze nicht lange gedauert."
In Bonn war Tanja von Oertzen bereits in Peter Eschbergs letzter Spielzeit 1991 als silbrige, völlig alterslos kindliche Prinzessin Ysabel in Tankred Dorsts "Karlos" (Regie: Peter Palitzsch) zu sehen, später unter Manfred Beilharz in der Uraufführung von Yasmina Rezas "Jascha" (Regie: Hans-Dieter Jendreyko), als selbstbewusst verzweifelnde Julia in Dorsts "Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben" (Regie: Peter Palitzsch), in der Regie von Andras Fricsay als Mutter in Schillers "Kabale und Liebe" und als lesbische Gräfin Geschwitz in Wedekinds "Lulu".
Klaus Weises Oberhausener Theater hat sie durch die Regisseurin und Schauspielerin Lore Stefanek kennen gelernt, mit der sie schon an anderen Orten zusammen gearbeitet hatte, und war dort in vier Produktionen zu Gast. Zum Saisonbeginn in Bonn arbeitet sie unter Klaus Weise gleichzeitig an zwei Stücken: In Racines "Phädra" spielt sie Oenone, die Amme und Vertraute der Titelheldin, in Karst Woudstras "Würgeengel" die Hausherrin Martha. Die Proben für die beiden schnell aufeinander folgenden Premieren in der Halle Beuel haben im Mai begonnen. „Es ist eine ziemliche Herausforderung, sich auf zwei so unterschiedliche Texte einzulassen - die klassisch gebundene, höchst artifizielle Sprache Racines und die rüde moderne des Niederländers Woudstra. Die beiden Werke zeigen - im selben Bühnenbild - ganz unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe, die dennoch in der Tiefe eine Menge miteinander zu tun haben. Ich bin ungeheuer gespannt auf die Reaktionen des Publikums zu diesem Doppelprojekt."
Gegenwärtig lebt Tanja von Oertzen in Heidelberg, wo sie in der nächsten Spielzeit noch fest engagiert ist. In Frankfurt hat sie immer noch ein Standbein: Seit fünf Jahren unterrichtet sie an der dortigen Hochschule für darstellende Kunst. „Das macht mir großen Spaß - man hört und sieht ganz anders, wenn man mit jungen Menschen ein Ziel verfolgt und nicht weiß, wo man ankommt. Aber ein endgültiges ‚Ankommen' gibt es im Theater sowieso nicht …"
Gibt es Lieblingsautoren oder -stücke? „Schwierig: Pinter habe ich schon genannt. Tschechow bestimmt; in seinem "Onkel Wanja" z.B. habe ich - in verschiedenen Inszenierungen natürlich - die Sonja und die Jelena gespielt und dabei die subtilen Facetten seiner Frauenfiguren entdeckt. Shakespeare auf jeden Fall." Am Münchener Residenztheater, wo sie einige Jahre lang engagiert war, war sie 1987 das weibliche Zentrum einer Aufsehen erregenden, preisgekrönten Inszenierung von Shakespeares Sonetten, einer traumwandlerische Studie über die Liebe und die Liebesangst. „Komisch, das ist so lange her und mir immer noch völlig präsent. Da würde ich gern noch mal anknüpfen." Im Frühjahr hat sie sich in Heidelberg Gottfried Benns Lyrik und Prosa für eine Lesung neu erarbeitet. Auch das wäre eine Fortsetzung wert.

Dienstag, 25.02.2014

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